E. Schorsch. Kinderliebe Kinderliebe
Veränderungen der gesellschaftlichen Bewertung pädosexueller Kontakte


Die klinische Psychiatrie ist mit Krankheiten konfrontiert, die zwar auch von gesell­schaftlichen Bedingungen definiert werden, die aber dennoch relativ konstant und von aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen und Bewertungen wenig beeinflußbar erscheinen. Anders die forensische Psychiatrie. Ihr Gegenstand, die kriminelle Hand­lung, ist wesentlich variabler und von gesellschaftlichen Definitionen und Bewertungen unmittelbar abhängig. Dies wird deutlich, wenn im Zuge von Strafrechtsreformen bestimmte Handlungen als nicht mehr strafwürdig bezeichnet werden. Wurden Sodo­mie, Ehebruch oder homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen, solange diese Handlungen Straftaten darstellten, mit psychopathologischen Etiketten versehen, hingen diese Etiketten plötzlich im luftleeren Raum. Auch unabhängig von Strafrechts­reformen ist die forensische Psychiatrie von gesellschaftlichen Veränderungen insofern abhängig, als sich die Bewertungszusammenhänge von Straftaten verändern können. Ich will dies am Beispiel der Kinderliebe, der pädosexuellen Kontakte, verdeutlichen.
   1970 bei der Anhörung von Sachverständigen vor dem Sonderausschuß für die Straf­rechtsreform im Bundestag war auch die Bewertung der Schädlichkeit pädosexueller Kontakte ein Thema. Thea Schönfelder hatte sich so geäußert: „Tiefgreifende und nachhaltige Störungen der Persönlichkeitsentwicklung haben sich bei normal ent­wickelten, in unauffälligen Umweltverhältnissen aufwachsenden Kindern nicht nachweisen lassen . . . Die Annahme einer regelmäßigen Entwicklungsbeeinträchtigung durch frühzeitige Aufnahme heterosexueller Kontakte läßt sich wissenschaftlich nicht begründen.“ Ähnlich äußerte sich Lempp: „So kann festgestellt werden, daß das Ent­stehen oder Nichtentstehen eines Dauerschadens bei nichtgewaltsamen Sexualdelikten an Kindern kaum von dem sexuellen Delikt abhängen kann, sondern ausschließlich von der Reaktion der Erzieher, vom Milieu und von der Umgebungsreaktion.“ Ich hatte noch affirmativer formuliert: „Ein gesundes Kind in einer intakten Umgebung verar­beitet nichtgewalttätige sexuelle Erlebnisse ohne negative Dauerfolgen.“
   Diese Aussagen klingen vernünftig und brauchbar; sie sind nicht von der Art, daß man sie unverzüglich revozieren möchte. Dennoch würde man heute solche Sätze nicht mehr wiederholen. In den letzten beiden Jahrzehnten haben sich Veränderungen erge­ben, ist die Pädosexualität unter verschiedenen Aspekten neu thematisiert worden; dies hat dazu geführt, über dieses Phänomen heute mit veränderten Akzenten zu denken. Ich greife drei Aspekte heraus: die Ideologisierung der Kinderliebe, die Betroffenenliteratur der Opfer und die veränderte Sicht von Sexualität.


1. Die Ideologisierung von Kindersexualität und Sexualität mit Kindern

Die Pädophilen haben sich im vergangenen Jahrzehnt formiert, sie haben zu so etwas wie einem subkulturellen Zusammenschluß gefunden, haben sich lautstark artikuliert und ihre Interessen als progressives Gedankengut vertreten. Sie verstehen sich als die Anwälte der Kinder, die gegen deren Unterdrückung zu Felde ziehen. Die Bestrafung oder auch nur Ächtung pädosexueller Kontakte wird von ihnen als Kinderfeindlichkeit und als Unterdrückung und Leugnung kindlicher Sexualität interpretiert. In der Zuspitzung dieser Position erlebt sich der Erwachsene als der Erfüllungsgehilfe kindli­cher Wünsche zum Wohl des Kindes. Gewaltfreiheit, Ablehnung von Autorität und Überlegenheit, partnerschaftlich gleichberechtigter Umgang mit den Kindern, Überge­wichtung prägenitaler Zärtlichkeiten gegenüber dem genitalen Vollzug, pädagogischer Eros bzw. erotisierte Pädagogik werden als die entscheidenden Charakteristika pädo­philer Beziehungen genannt.
   Ich erwähne diese Betroffenenliteratur deswegen, weil in der Diskussion dieser Posi­tion, die einem immer wieder aufgedrängt wurde, mehreres deutlich geworden ist. Zunächst einmal hat mich stutzig gemacht, daß in den apologetischen Schriften der Pädophilen immer wieder mein oben zitierter Satz aufgegriffen worden ist: „Ein gesundes Kind in einer intakten Umgebung verarbeitet nichtgewalttätige sexuelle Erlebnisse mit Erwachsenen ohne negative Dauerfolgen.“ Ich habe dies als Hinweis darauf verstanden, daß irgendetwas nicht stimmen kann. In der Tat, bei näherer Betrachtung ergibt dieser Satz wenig Sinn. Er impliziert drei Prämissen: Erstens daß das Kind gesund ist - ohne Zweifel eine problematische Prämisse; es wird mit Begrif­fen wie krank/gesund operiert, die unangemessen sind, weil hier suggeriert wird, es gäbe verbindliche Grenzen und Definitionen. In der therapeutischen Perspektive ist es sehr viel angemessener, Begriffe wie Problematik, Ängste, Konflikte, adäquate oder weniger adäquate Bewältigungsmechanismen zu verwenden. Die Prämisse, daß die Umgebung intakt sei, ist noch unpräziser. Die dritte Prämisse schließlich, daß eine pädosexuelle Handlung gewaltfrei sei, verweist auf eine Problematik, auf die ich zurückkomme.
   Das Studium der Betroffenenliteratur Pädophiler macht ferner eines deutlich, was man sonst nur in Einzelfällen der klinischen und forensischen Praxis vermuten konnte - nämlich die Psychodynamik pädophiler Beziehungen. Es geht tatsächlich darum - und dies ist der rote Faden -, die eigene verhaßte und vielleicht verpaßte Erwachsenen­identität zu verleugnen, sich ihrer zu entledigen; es geht um eine regressive Wiederfin­dung der eigenen Kindheit und Kindlichkeit, die naturgemäß immer nur illusionäre Verkennung und Umdeutung sein kann zu einer Art Pseudokindheit und Pseudokind­lichkeit. Die Ablehnung der Identität als Erwachsener und die Abwertung phallisch genitaler Aktivität gehen einher mit einer Verleugnung und Ausblendung jeglicher Aggressivität. Eine zentrale Rolle dabei spielt der Abwehrmechanismus der projekti­ven Identifikation. Die Einfühlung in die Welt des Kindes bleibt letztlich partiell und fragmentarisch; die subjektiv erlebte Nähe und Identifikation mit dem Kind vermag über die Inkompatibilität der Wünsche und des Erlebens nicht hinwegzutäuschen. Dannecker hat dies sehr gut herausgearbeitet, wenn er von der prinzipiellen Ungleich­zeitigkeit spricht, durch die pädosexuelle Beziehungen immer und unausweichlich gekennzeichnet sind. Mit der Ungleichzeitigkeit ist folgendes gemeint:
„ . . . erst nach der Pubertät erwirbt ein Individuum ein Bewußtsein über seine in der Kind­heit präformierte Sexualorganisation . . . In der Pubertät wird das präformierte Sexualob­jekt sowohl bewußt als auch endgültig zentriert. Mit dieser bewußten Aneignung des sexuel­len Objekts wird auch ein wesentliches Stück der sexuellen Identität angeeignet. Das Indivi­duum beginnt sich entlang seines Sexualobjekts als heterosexuell, homosexuell, bisexuell oder pädosexuell wahrzunehmen . . . In der pädosexuellen Beziehung aber gibt es nur einen Partner mit solchen Voraussetzungen . . . Die Kluft, die zwischen Kind und Erwachsenem im Hinblick auf die Konturierung und Strukturierung des sexuellen Objekts herrscht, bringt es notwendig mit sich, daß dem Kinde bei einem sexuellen Kontakt das Sexualobjekt sozusa­gen aufgedrängt wird.“
Das Kind in einer pädosexuellen Beziehung, auch wenn es sich aktiv verführerisch ver­hält, kann alles mögliche wünschen, intendieren, nicht jedoch primär die Verführung zum sexuellen Vollzug. Es gibt einen sehr schönen Aufsatz von Ferenczi aus dem Jahre 1932 mit dem bezeichnenden Titel „Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind - die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft“, in dem die aneinander vorbei­laufende Kommunikation in einer pädophilen Situation prägnant beschrieben wird:
„Ein Erwachsener und ein Kind lieben sich; das Kind hat die spielerische Phantasie, mit dem Erwachsenen die Mutterrolle zu spielen. Das Spiel mag auch erotische Formen annehmen, bleibt aber nach wie vor auf dem Zärtlichkeitsniveau. Nicht so bei pathologisch veranlagten Erwachsenen . . . Sie verwechseln die Spielereien der Kinder mit den Wünschen einer sexu­ell reifen Person oder lassen sich, ohne Rücksicht auf die Folgen, zu Sexualakten hinreißen.“


2. Betroffenenliteratur der Opfer

Die zweite Bewegung und Darstellung sexueller Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern, die die Sicht und die Einschätzung der Pädosexualität mitgestaltet und verändert hat, ist die ebenfalls im letzten Jahrzehnt entstandene umfangreiche Litera­tur und Selbstdarstellung von Frauen, die ihr eigenes Opfersein von sexuellen Über­griffen in der Kindheit erlebt haben. Dieses zu thematisieren und sexuelle Übergriffe von Männern auf Kinder innerhalb und außerhalb der Familie als massenhaftes, quasi alltägliches Phänomen zu deklarieren, war und ist ohne Zweifel ein Tabubruch, der dazu verholfen hat, sprachlosem Elend zur Sprache zu verhelfen. Die Empörung und die Wut in diesen Selbstzeugnissen zielt auch darauf, daß solche Vorkommnisse teils totgeschwiegen, teils verharmlost worden sind - und zwar nicht nur innerfamiliär; auch die Strafrechtspflege, die therapeutischen Institutionen haben die Opfer mehr oder minder übersehen und haben sich, wenn überhaupt, um die Täter gekümmert. Deshalb haben sich die Opfer auch unter dem Aspekt von Hilfe und Selbsthilfe formiert (vgl. Kavemann und Lohstöter 1984).
   Diese Betroffenenliteratur hat die Sicht des Phänomens Sexualität mit Kindern vor allem insofern verändert, als das Problem der Gewalt in einer veränderten Gestalt wahrgenommen worden und in die Diskussion geraten ist. Man ist auf das aufmerksam geworden, was man heute die strukturelle Gewalt nennt. Dieses Phänomen ist nicht neu und ist z.B. von Ferenczi in dem schon zitierten Aufsatz sehr genau benannt:
„Die Kinder fühlen sich körperlich und moralisch hilflos, ihre Persönlichkeit ist noch zu wenig konsolidiert, um auch nur in Gedanken protestieren zu können, die überwältigende Kraft und Autorität des Erwachsenen macht sie stumm . . . Dieselbe Angst . . . zwingt sie automatisch, sich dem Willen des Angreifers unterzuordnen, jede seiner Wunschregungen zu erraten und zu befolgen, sich selbst ganz vergessend, sich mit dem Angreifer vollauf zu identi­fizieren. Durch die Identifizierung, sagen wir Introjektion des Angreifers verschwindet dieser als äußere Realität und wird intrapsychisch . . . Doch die bedeutsame Wandlung, die die ängstliche Identifizierung mit dem erwachsenen Partner im Seelenleben des Kindes hervor­ruft, ist die Introjektion des Schuldgefühls des Erwachsenen, das ein bisher harmloses Spiel als strafwürdige Handlung erscheinen läßt.“
Die Neuformulierung der Gewaltfrage begreift Gewalt nicht allein und nicht in erster Linie als spürbare, zugefügte Gewalt oder deren Androhung, sondern Gewalt ist Machtgefälle. Selbst der überaus liebevolle, jegliche Aggression verleugnende Pädo­phile wird in den Augen des Kindes allein durch sein Alter, sein größeres Wissen, seine überlegene Beurteilungsfähigkeit, ja schon durch die Ungleichheit der Körpergröße und -kraft als stark, imponierend und gewaltig wahrgenommen, was seine, des Starken Werbung um das kleine Kind nur noch verführerischer machen kann. All dies ist gar nicht hinwegzuargumentieren.
   Problematisch an dieser Betroffenenliteratur ist einmal, daß hier sehr heterogene Phänomene durcheinandergeworfen werden: Inzest, Kindesmißhandlung ohne Sexua­lität, Gewaltakte, pädophile Beziehungen. Gerade im Interesse des Kindes ist es wich­tig, hier zu differenzieren und auseinanderzuhalten.
   Problematisch ist ferner, daß hier ein affektisches Feindbild des Mannes und von Männlichkeit gezeichnet wird, das zwar aus der Betroffenenperspektive heraus ver­ständlich ist, das aber unter dem Aspekt einer Aufarbeitung kaum Möglichkeiten einer Bewältigung und einer wie auch immer gearteten Aussöhnung mit der eigenen Geschichte offenläßt. Es wird ein bestimmtes Täter-Opfer-Stereotyp nach Art und Funk­tion von Hammer/Amboß errichtet. Eng damit verwoben ist schließlich die Tendenz, die Sexualität zu einem Faktum zu reduzieren, die sexuelle Handlung, den sexuellen Akt überzubewerten, zu isolieren und zu einem Trauma an sich zu erheben, ohne auf den Beziehungshorizont, in dem eine sexuelle Handlung geschieht oder auch nicht, abzustel­len und zu differenzieren. Diese Tendenz, Sexualität als Faktum, als Tat zu handhaben - eine Sichtweise, die sonst dem Strafrecht eigen ist -, geht bis in das Theorieverständnis, wie die Auseinandersetzung mit dem Sexualitätsverständnis der Psychoanalyse zeigt. Freud hatte in seinem Hysterie-Aufsatz von 1896 die These aufgestellt: „Ich stelle also die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich - durch die analy­tische Arbeit reproduzierbar, trotz des Dezennien umfassenden Zeitintervalls - ein oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend ange­hören.“ Diese aus dem Vorfeld der Psychoanalyse stammende These ist wieder aufgegriffen worden. In der Überarbeitung von 1924 hatte Freud hinzugefügt: „All dies ist richtig, aber es ist zu bedenken, daß ich mich damals von der Überschätzung der Realität und der Geringschätzung der Phantasie noch nicht freigemacht hatte.“ Dieser sogenannte Wider­ruf Freuds, der eigentlich gar keiner war, wurde nun als Feigheit Freuds interpretiert, als ein Kuschen vor den medizinischen Standesorganisationen, als der große Verrat, durch den die Psychoanalyse salonfähig gemacht werden sollte, als die chauvinistische Wende (vgl. Masson 1984). Die Präponderanz von Phantasie und innerem Erleben gegenüber dem geschehenen Faktum - eine der entscheidenden Entdeckungen der Psychoanalyse - wird hier mißverstanden als eine Schuldzuweisung an das Opfer und als Entlastung und Freispruch für den Täter. Ein Mißverständnis ist dies aus folgendem Grund: Die inze­stuöse Phantasie des Kindes entsteht ja nicht zufällig und nicht im leeren Raum; sie ist auch nicht lediglich Projektion eigener Triebwünsche. Sie ist auch Antwort auf eine bestimmte Beziehungsmodalität und -qualität, die an das Kind herangetragen wird. Die Inzestphantasie des Kindes blüht auf in einer sexualisierten Atmosphäre, in einem inze­stuösen Klima; gemessen daran mag es dann so entscheidend gar nicht mehr sein, ob sich noch eine sexuelle Berührung als Faktum ereignet oder nicht. Man kann sogar die Frage stellen, ob nicht eine stark, aber verdeckt sexualisierte Beziehung zwischen Vater/Toch­ter oder Mutter/Sohn bezüglich der Entwicklungschancen des Kindes nicht sehr viel ein­schneidender ist, als es je eine sexuelle Handlung sein kann, die unter Umständen eine Distanzierung für das Kind erleichtert, weil die Beziehungsstrukturen und -ebenen dann eindeutiger werden.


3. Veränderung der Sicht und des Stellenwertes von Sexualität

Die inzwischen veränderte Sicht von Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern seit 1970 ist vor allem Ausdruck der veränderten Sichtweise von Sexualität und ihres gesellschaftlichen Stellenwertes. Um 1970 herum, die Zeit der Stellungnahmen, lag die Blüte des sexuellen Liberalisierungsprozesses. Der Aufbruch der 60er Jahre hatte die Sexualität neu thematisiert; Hoffnungen auf eine grundlegende Veränderung der Gesellschaftsordnung bauten grundlegend auf die Sexualität und ihre Veränderungen. Die Aktualisierung und der Aufschwung von Sexualwissenschaft damals stand unter einem völlig anderen Vorzeichen als die momentane Aufwertung der Sexualwissen­schaft heute im Gefolge und unter dem Druck von Aids. Es ging in der Hoffnung und in der utopischen Vision um Befreiung und Veränderung des Menschen und der Gesell­schaft, nicht um Bestandsaufnahme sexueller Praktiken unter der Optik von Kontrolle und sexualhygienischen Verhaltensänderungen. Erinnern wir uns an die Schlagworte: Abschaffung der Zwangsheterosexualität, Auflösung der Paarbeziehung, Verdächti­gung der Treue als Inkarnation bürgerlich-kapitalistischer Besitzansprüche. Sexualpäd­agogik nahm einen enthusiastischen Aufschwung. Es war die wenig hinterfragte Gewiß­heit, gestützt auf ein verkürztes Verständnis der Psychoanalyse, daß die nachweisbare Unterdrückung von Sexualität die Quelle der Neurosen darstelle, daß durch eine „Frei­setzung“ der Sexualität zu etwas „Natürlichem“ die psychische Gesundung des Men­schen eingeleitet und eingeläutet werde. Koedukation, die freie Rede über Sexualität und eigene sexuelle Bedürfnisse, das Hineintragen der sexuellen Thematik in die öffentliche Erziehung durch die Schulen, das Fallenlassen von Heimlichkeitsschranken um die Sexualität - all dies verstand sich als subversive Pädagogik im Dienste von Gesellschaftsveränderung. Der „homme revolté“ hatte sich der Sexualität bemächtigt.
   Inzwischen wissen wir längst, daß die Utopie auf sexuellem Sand gebaut war. Die Konsequenzen solcher Pädagogik brachten die große Ernüchterung mit sich. Nicht einmal die Feindseligkeit im Umgang der Geschlechter hat sich durch Koedukation wesentlich verändern lassen. Die Verringerung „sexueller Verklemmungen“ hat keinen Zuwachs an psychischer Gesundheit und keine Abnahme neurotischer Störungen gebracht; dies zeigt, daß Sexualverbote, Tabuierungen, sexuelle Unterdrückung ledig­lich ein Vehikel sind bzw. waren, in dem sich pathogene Faktoren transportieren, aber nicht die „Ursache“ psychischer Störungen.
   Spätestens seit diese vermeintlich subversive Pädagogik zur anerkannten gesell­schaftlichen Praxis und Strategie geworden ist, war klar, daß sich die „Dialektik der Aufklärung“ wieder einen Schritt weiter verwirklicht hat. Die intendierte „gesunde Natürlichkeit“ im Umgang mit Sexualität hat lediglich eine neue gesellschaftliche Rea­lität geschaffen; die Entprivatisierung und Veröffentlichung von Sexualität ist das Mittel zur Kontrolle und Manipulierung einer neuen kollektiven Sexualität. „Subver­siv“ ist heute eher wieder eine Weigerung, an dieser Veröffentlichung teilzuhaben, Sexualität zu „reprivatisieren“ - was aber nicht gelingen kann, da Sexualität durch ihre Kollektivierung zu einer veränderten Realität geworden ist, die sich nicht einfach in einer historischen Regression rückgängig machen läßt.
   Wir, die Sexualforscher, haben nie, zumindest nicht mehr um 1970 herum, ein unge­brochenes Verhältnis zu dieser utopischen Hoffnung auf die Sexualität gehabt und haben frühzeitig skeptische Einwürfe formuliert. Dennoch hatte diese Sicht der eige­nen Wissenschaft einen Reiz, einen Sog, eine Verführungskraft, der man sich nicht ganz entziehen konnte. So registrierten Giese und Schmidt in der „Studentensexualität“ 1968 noch mit Bedauern, daß den Studenten der 60er Jahre „das schlichte und profane Bekenntnis, daß Sexualität auch Spaß macht . . . heute so schwer von den Lippen (kommt) wie ihren Vätern und Großvätern.“ Dies ist heute längst eingelöst: Sexualität als Vergnügen und Spaß, als „Joy of sex“, ist gängiger Topos. Von der Verführungskraft der Utopie ist auch in den Gutachten der Sexualwissenschaftler für die Bonner Anhö­rung 1970 noch etwas zu spüren. Wenn Schmidt und Sigusch in ihrem Gutachten das Forschungsergebnis mitteilten, daß gegenüber früher nun bereits 10% der 14jährigen über Koituserfahrung verfügen, so schwingt darin bei aller kritischen Reflexion und Skepsis doch ein triumphaler Unterton mit, der auch in meinem zitierten Satz vom gesunden Kind und seinen sexuellen Erlebnissen mit Erwachsenen enthalten ist.


Konklusion

Ausgegangen bin ich von Äußerungen über die Bewertung von sexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen und Kindern, die als offizielle Stellungnahmen 1970 abgegeben wurden. Ich hatte die Behauptung aufgestellt, daß diese Äußerungen zwar nicht falsch waren im Sinne eines wissenschaftlichen Irrtums, daß sie aber heute in dieser Formulie­rung nicht wiederholt werden könnten. Läßt man sich auf die Frage nach der Schädlich­keit oder Unschädlichkeit einer sexuellen Handlung ein, dann läßt man sich einen fal­schen Begriff von Sexualität aufzwingen, der Sexualität zu einem Faktum reduziert. Verweigert man sich einem solchen verdinglichten Sexualitätsbegriff, dann sind Aussa­gen über Schädlichkeiten nicht in genereller Form zu machen. Allenfalls könnte dies nach einer genaueren Untersuchung von Einzelfällen gelingen; solche Ergebnisse aber sperren sich gegen eine Transformierung in generalisierbare Resultate, wie sie das Strafrecht verlangt.
   Kinderliebe also ist weder generell schlecht noch generell gut. Es läßt sich nur soviel sagen: Sie ist riskiert durch die Ungleichzeitigkeit, sie ist belastet durch die Disparität der Wünsche, das heißt jedoch nicht, daß sie unbedingt schädlich ist. So wie es kein Problem ist, in einer einzelnen geschichtlichen Entwicklung aufzuzeigen, daß eine pädosexuelle Beziehung für ein Kind die Katastrophe sein kann, ist es auch für einen Unvoreingenommenen leicht darzustellen, wie eine pädophile Beziehung z.B. für ein emotional heimatloses, unverwurzeltes, sogenanntes verwahrlostes, frühkriminelles Kind die Rettung sein kann, wenn es in dieser Beziehung erstmals eine stabile, wenn auch sexualisierte emotionale Verläßlichkeit erlebt. Beim Thema Pädosexualität sind also weder blinde Apologie, noch moralische Abwertungen und Bedenklichkeitserklä­rungen, noch Racheimpulse, noch generalisierte Stellungnahmen im Sinne von pro, contra oder teils-teils angebracht. Das Strafrecht, das solche Stellungnahmen erwartet, muß von den Wissenschaften hier im Stich gelassen werden; denn die Pädosexualität ist ein Phänomen, das mit dem groben Hammer des Strafrechts nicht sinnvoll zu bearbei­ten ist; er, der Hammer, hinterläßt nur Splitter und Trümmer nach allen Seiten.

(1989)

Literatur


Dannecker, M.: Bemerkungen zur straf­rechtlichen Behandlung der Pädosexuali­tät. In: H. Jäger, E. Schorsch (Hrsg.): Sexualwissenschaft und Strafrecht. Beitr. Sexualforsch., Bd. 62. Stuttgart: Enke 1987, S. 71ff.
Ferenczi, S. (1932): Sprachverwirrung zwi­schen den Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit und der Lei­denschaft. In: Ders.: Schriften zur Psy­choanalyse II, Frankfurt a.M.: Fischer 1972
Freud, S. (1896): Zur Ätiologie der Hyste­rie. G.W., Bd. I. Frankfurt a.M.: Fischer 1952, S. 423ff.
Giese, H., G. Schmidt: Studentensexualität. Reinbek: Rowohlt 1968
Kavemann, B., I. Lohstöter: Väter als Täter. Sexuelle Gewalt gegen Mädchen. Rein­bek: Rowohlt 1984
Lempp, R.: Stellungnahme. In: Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, Stenographi­scher Dienst: 28., 29. und 30. Sitzung des Sonderausschusses für die Strafrechtsre­form. Bonn, 23., 24. und 25. November 1970, S. 927ff.
Masson, J.M.: Was hat man dir, du armes Kind, getan? Sigmund Freuds Unter­drückung der Verführungstheorie. Rein­bek: Rowohlt 1984
Schönfelder, Th.: Stellungnahme. In: Deut­scher Bundestag, 6. Wahlperiode, Steno­graphischer Dienst: 28., 29. und 30. Sit­zung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform. Bonn, 23., 24. und 25. November 1970, S. 914ff.
Schorsch, E.: Stellungnahme. In: Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, Stenographi­scher Dienst: 28., 29. und 30. Sitzung des Sonderausschusses für die Strafrechtsre­form. Bonn, 23., 24. und 25. November 1970, S. S. 981ff.
Sigusch, V., G. Schmidt: Stellungnahme. In: Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, Stenographischer Dienst: 28., 29. und 30. Sitzung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform. Bonn, 23., 24. und 25. November 1970, S. 861ff., 889ff.

[Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 72. Jg., 1989. Köln: Carl Heymanns Verlag;
M. Dannecker, G. Schmidt, V. Sigusch (Hrsg.): Perversion, Liebe, Gewalt. Beiträge zur Sexualforschung, Bd. 68 (ISBN 3-432-25391-5), S. 166ff]